[Max Frisch] [Homo faber]

Homo faber

1957 erschien der Roman Homo faber, Untertitel ein Bericht. Nach der komplizierten Struktur des Stiller ein verblüffend einfacher Anfang: Ein Flugpassagier erzählt knapp und spannend von einer Notlandung in der Wüste. Ein Unterhaltungsroman? So will es zunächst aussehen. Doch der Ingenieur Walter Faber hat mit dem Bildhauer Stiller mehr Ähnlichkeit, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Auch er beschäftigt sich vorzugsweise mit Dingen, die angeblich nichts mit ihm zu haben. Faber hält sich für einen rationellen, aufgeklärten Menschen, dem man nichts vormachen kann. Für ihn ist die Welt berechenbar. Und was sich nicht berechnen läßt, lehnt er, stößt er ab – oder versucht es jedenfalls, in Wahrheit irritiert und fasziniert von der Gefühls- und Erlebniswelt, von Geheimnissen und Schicksalsmächten. Frisch setzt hier ein erzähltechnisch, raffiniertes Spiel in Gang: Wie ein alter Meister beschreibt er die Natur anschaulich und bildkräftig, um im selben Atemzug gegen diese Darstellungsweise zu rebellieren. Sein Medium ist Faber, der zum Beispiel nach der gelungenen Notlandung als Ich-Erzähler diese Schilderung gibt:

Ich habe mich schon oft gefragt, was die Leute eigentlich meinen, wenn sie von Erlebnis reden. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich sehe alles wovon sie reden, sehr genau; ich bin ja nicht blind. Ich sehe den Mond über der Wüste von Tamaulipas – klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis? Ich sehe die gezackten Felsen, schwarz vor dem Schein des Mondes; sie sehen aus, mag sein, wie die gezackten Rücken von urweltlichen Tieren, aber ich weiß: Es sind Felsen, Gestein, wahrscheinlich vulkanisch, das müßte man nachsehen und feststellen. Wozu soll ich mich fürchten? Es gibt keine urweltlichen Tiere mehr. Wozu soll ich sie mir einbilden? Ich sehe auch keine versteinerten Engel, es tut mir leid; auch keine Dämonen, ich sehe, was ich sehe: die üblichen Formen der Erosionen, dazu meinen langen Schatten auf dem Sand, aber keine Gespenster.

Homo faber ist nicht nur der Bericht über einen Techniker, der von Zahlen und Statistiken besessen ist, sondern auch ein Roman über das Schreiben im technischen Zeitalter. Die Hauptfigur mag von Frisch als Prototyp des modernen Zivilisten angelegt worden sein, sie ist doch immer auch vorgeschobenesAlter ego des Schriftstellers. Fabers Befangenheit, Gefühle und Empfindungen zu äußern, ist von seinem Typus bestimmt und soll ihn kennzeichnen, zugleich aber steht sie stelvertretend für die im Stiller schon berührten Probleme des Erzählens. Wozu Einbildung, wozu Phantasie in einer Zeit, da man sich zum Internkontinentalflug (damals noch mit der prächtigen Lockheed Super-Constellation) in die Lüfte erheben kann? Schon daß der Roman mit einem Start beginnt, ist kennzeichnend für die Erzählhaltung. Übrigens war ds Fliegen schon früh, im ersten Tagebuch, mit der Frage verknüpft, wieweit der Mensch sich selbst in der Technik verlorengeht: Auch der Düsenjäger wird unser Herz nicht einholen. Es gibt, so scheint es, einen menschlichen Maßstab, den wir nicht verändern, sondern nur verlieren können. (Gesammelte Werke, Bd. II, Frankfurt a. Main, 1976, Seite 392). Doch hinter dieser Beobachtung steht nicht nur die Abscheu vor der Technik, sondern auch ein Stück Faszination, und es hieße den Roman Homo faber einseitig auslegen, wollte man in ihm allein die Kritik an der Welt der Apparate und deren Benutzern und Nutznießern sehen. Die kulturkritische Komponente wurde besonders in den fünfziger Jahren verstanden und hervorgehoben. Friedrich Sieburg schrieb: „Man versteht wohl, was der Autor will. Er will, daß dem nur an Tatsachen und Geräte glaubenden Menschen in seiner Gottähnlichkeit bange werde, er will, daß ihm eine Lehre erteilt werde, ja, daß das Schicksal selbst diese tödliche Belehrung vornehme.“

Was passiert? Ausgerechnet Faber, der kühle Kopf, wird in einen Strudel schicksalsträchtiger Ereignisse und Begegnungen gezogen. Er, der nur in der Gegenwart leben möchte, wird durch die mächtige Regie des Zufalls mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert.

 

Quelle: rororo bildmonographien, rm 321
“Max Frisch“ von Volker Hage