Trübsinn
Ich weiß soviel als wär ich tausend Jahre alt.
Ein Schrank mit alten Abrechnungen vollgeballt, Mit Versen, Akten, Liebesbriefen und Romanzen Und schweren Locken, eingewickelt in Bilanzen Birgt weniger Geheimnis als mein Hirn beruft. O diese Pyramide, diese Riesengruft, In der mehr Tote als im Massengrabe liegen! Ich bin ein Friedhof, dem des Mondlichts Gnaden schwiegen, Wo lang Gewürme kriecht, wie ein Gewissen plagt, Und immerdar an meinen Toten nagt, Ich bin ein alt Gelaß, wo welke Rosen zittern Verjährte Kleider haufenweise sich zerknittern, Ein weinerlich Pastell, ein zarter Fragonard Allein den Duft noch atmen, der im Fläschchen war.
Nichts gleicht an öder Länge diesen Hinketagen, Wenn unter schneeiger Jahre schwerem Flockenjagen Die Frucht der Wissensunbegier, Verdrossenheit, Sich auswächst in den Maßen der Unsterblichkeit.
Du bist von nun an weiter nichts, o Stoff mit Leben, Als nur ein Klotz, den Dünste schwanken Grauns umschweben, Der tief in einer Sahara voll Nebel steckt, Ein alter Sphinx, von leichter Welt noch nicht entdeckt, Noch unvermessen, dessen wilder Sinn allein Ans Singen denkt bei toter Sonne letztem Schein.
Quelle: Goldmanns Gelbe Taschenbücher, Band 535 Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen Übertragung von Carlo Schmid
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